Newsletter September 2017
Inhaltsverzeichnis
Waldorf 100 – Worum und wohin es geht und wie es gelingen kann
Editorial
Liebe Freunde,
wir begrüßen Sie herzlich zu unserem ersten Waldorf 100-Newsletter, in dem wir Sie nun in regelmäßigen Abständen über alle Aktivitäten rund um das Jubiläum informieren möchten.
Jeden Morgen, kurz vor dem Aufgang der Sonne, wandert ein Wunder einmal rund um die Welt: der Gesang der Vögel, ohne den sie um so viel ärmer wäre. Einige Zeit später folgt eine zweite Welle, die, obwohl nicht so bekannt, auch an ein Wunder grenzt: der Morgenspruch, gesprochen von Hunderttausenden junger Menschen in vielen verschiedenen Sprachen. Hundert Jahre Waldorfpädagogik sind hundert Jahre einer außergewöhnlich lebendigen Entwicklung, die inzwischen von vielen tausend Schulen, Kindergärten und verwandten Initiativen rund um die Welt vorangetragen wird.
2019 werden wir das hundertjährige Jubiläum auf der ganzen Welt feiern. Dabei wird die Besinnung auf die vergangenen hundert Jahre natürlich wichtig sein, wichtiger ist aber noch, dass wir schon jetzt die Keime für die Pädagogik der nächsten hundert Jahre legen. Lassen wir 2019 zum Beginn einer neuen Ära unseres pädagogischen Impulses werden, an jeder einzelnen Schule, jedem Kindergarten, unseren Hochschulen und Seminaren, indem wir uns brennend für unsere Zeit interessieren, indem wir die Grundlagen der Waldorfpädagogik auf dem heutigen Stand der Forschung noch einmal neu studieren, indem wir unsere Schülerinnen und Schüler noch besser wahrzunehmen üben (und dabei auch die Erwachsenen nicht vergessen) und schließlich, indem wir uns über unseren Tellerrand hinaus mit anderen austauschen. Viele Schulen und Kindergärten haben schon damit begonnen, indem sie
- ... die grundlegenden pädagogischen Vorträge Rudolf Steiners studieren
- ... den entwicklungspädagogischen Dialog (die „Kinderbesprechungen“) verstärken
- ... mit der ganzen Schulgemeinschaft das Projekt „Bees & Trees“ verwirklichen
Waldorf 100 lebt von tausend kleinen und großen Initiativen, die überall vor Ort, in Zusammenarbeit mit anderen, auf einem Kontinent oder der ganzen Welt passieren.
Waldorf 100 arbeitet aber auch an einigen Projekten, die allen Waldorfschülerinnen und -schülern rund um die Welt zur Verfügung stehen. Wir nennen sie unsere „Kernprojekte“, weil sie im Unterschied zu den vielen individuellen Projekten vor Ort zentral vorbereitet werden. Auf unserer Website können Sie sich immer über den aktuellen Stand dieser Projekte informieren.
Zu den anderen Kern-Projekten geht es hier:
- Metamorphosen: Kompositionen für Schulorchester
- Drama für Oberstufenklassen
- Staffellauf um die Welt
- Bees & Trees
- Die Schulprojekte finden sich auf der interaktiven Weltkarte
Genauso wichtig ist aber, dass jede Waldorfeinrichtung – also auch Ihre – ihre eigenen Projekte auf unserer interaktiven Weltkarte sichtbar machen kann, als Anregung und Inspiration für sich selbst und für andere. In unserem Newsletter wollen wir regelmäßig ein ganz besonderes Schulprojekt vorstellen.
Seien Sie dabei, mit Waldorf 100 ein globales Bewusstsein zu bilden, das in unserer Zeit wichtiger ist als jemals zuvor in der Geschichte unserer einzigartigen Welt. Sammeln wir gemeinsam und vor Ort die Kräfte, die wir brauchen, um unsere Kinder auf die Welt von morgen vorzubereiten! Die Vögel und der Morgenspruch singen und sagen es uns jeden Tag.
Waldorf 100 ist eine Initiative der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung. Träger ist der gemeinnützige Verein Waldorf 2019 e.V., der seinen Sitz in Stuttgart, sein Büro in Hamburg und einen internationalen Vorstand hat. Waldorf 100 wird von vielen nationalen Assoziationen und befreundeten Partnern getragen und gefördert.
Kernprojekte – Der Kartentausch hat begonnen
(HKU) 1.200 Pakete mit 1,4 Millionen Postkarten sind bei allen Waldorf- und Steiner-Schulen unseres Planeten eingetroffen und warten darauf, dass unsere Waldorfschüler*innen daraus ein gemeinsames Kunstprojekt machen, das in dieser Größenordnung einzigartig ist. Jetzt ist die richtige Zeit, die Karten in die Welt zu schicken. Wenn alle Schülerinnen und Schüler sich beteiligen, bekommt jede Schule eine wunderbare Palette großer und kleiner Kunstwerke zurück, mit denen wir nicht nur wunderschöne Weltkarten gestalten, sondern auch ein globales Bewusstsein bilden können, an dem wir alle beteiligt sind.
Viele Schulen melden uns begeistert zurück, mit welchem Eifer sich ihre Schüler*innen auf die Gestaltung der Karten stürzen. Wir freuen uns riesig, wenn Sie uns Fotos von Ihren schönsten Karten, von zeichnenden Kindern oder von der Präsentation der Karten an Ihrer Schule schicken, damit wir sie auf unserer Webseite veröffentlichen und damit auch für andere verfügbar machen können.
Einige kleinere oder ärmere Schulen haben die Eltern gebeten, ihren Kindern jeweils ein paar Briefmarken mitzugeben und damit die Portofrage ganz unkompliziert gelöst. Allerdings gibt es in einigen Ländern Schulen, die eine so arme Elternschaft haben, dass sie sie noch nicht einmal um ein paar Briefmarken bitten können. Für diese Schulen haben wir einen Porto-Fonds eingerichtet, in den Schulen aus wohlhabenderen Ländern Geld spenden können. Wir möchten Sie daher herzlich bitten, eine Spende zu erwägen, um auch den wirklich armen Schulen die Möglichkeit zu geben, sich an diesem Projekt zu beteiligen. Vielen Dank!
Schulprojekte – Wiederaufforstung im peruanischen Regenwald
(VS) Die Waldorfschule in Lima (Peru) engagiert sich mit ihrem Waldorf 100-Projekt für die Rettung des Regenwaldes. Die Schülerinnen und Schüler forsten jedes Jahr etwa 1.000 Bäume im Regenwald wieder auf und schützen damit ein massiv bedrohtes Naturschutzgebiet.
Inmitten des peruanischen Urwaldes erstreckt sich das Forschungs- und Schultzgebiet Panguna. Die malerische Landschaft ist ein äußerst empfindliches Ökosystem mit einer sagenhaften Artenvielfalt des Amazonas. In diesem tropischen Gebiet befindet sich eine Forschungsstation, die nur zu Fuß oder per Boot erreicht werden kann. Unweit dieser Station liegt das Zentraldorf der Asháninka, ein indogenes Volk im Amazonas. Durch den Abbau von Goldvorkommen im angrenzenden Sira Gebirge ist die gesamte Region durch Quecksilber-Emission äußerst bedroht– immer wieder kommt es zu Brandstiftung und Abholzung des Schutzgebietes. Mit den Schüler *innen der Waldorfschule begann 2014 das Aufforstungsprojekt, das jährlich von den Schülern der 9. Klasse unter der Leitung eines festen Lehrerteams durchgeführt wird.
Mit dem Waldorf 100-Projekt pflanzen die Schüler*innen jedes Jahr ca. 1000 Bäume, um die abgebrannten Flächen zu regenierieren. Die Schüler*innen erleben konkret was es heißt, in der tropischen Hitze auf offenen Flächen zu arbeiten und was durch die Anstrengung und Aufforstung inmitten des Regenwaldes geschützt wird – ein phantastisches Ökosystem. An dem Aufforstungsprojekt beteiligt sich auch eine Nachbarschule, was zum Austausch unter den Schülern von Lima und der Gegend führt. Hier erfahren sie gegenseitig, dass jeder über besondere Fähigkeiten verfügt und was jeder vom andern lernen kann. Die Schüler*innen erfahren aber auch, was dem ganzen Gebiet durch den Abbau von Gold droht: Vergiftung von Mensch und Natur durch Quecksilber.
Drei Fragen an... Michal Ben Shalom
Michal Ben Shalom kam in Israel zur Welt und wuchs dort auf. Sie war Mitgründern in der ersten Waldorfschule in Israel, die im September 1989 im Kibbutz Harduf entstand. Dort unterrichtete sie 25 Jahre als Klassenlehrerin. In der gleichen Zeit gründete sie mit anderen das Lehrerseminars in Harduf und die Israelische Konferenz für Waldorfpädagogik. Heute unterrichtet und mentoriert sie Lehrer in Israel und in Katmandu, Nepal.
Wie geht es den Waldorfschulen in Ihrem Land?
Die Waldorfschulen in Israel haben mit 28 Schulen, vier Oberstufen und über 100 Kindergräten eine große Dynamik entwickelt. Es ist bemerkenswert, dass israelische Eltern inmitten eines komplizierten kulturellen, sozialen und politischen Klimas nach einer anderen, menschlicheren Erziehung suchen. Unser größtes Problem ist der Mangel an ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern, während die Nachfrage nach der Einrichtung neuer Klassen zunimmt.
Welche besonderen Pläne hat Ihre Schule bereits für das 100-jährige Waldorfjubiläum?
Bisher hat Waldorf 100 noch keine klaren Formen angenommen, aber das wird in den nächsten Monaten passieren. Einige Schulen haben mit der Bienenhaltung begonnen.
Was ist für Sie persönlich das Essenzielle der Waldorfpädagogik?
Für mich ist Waldorfpädagogik in ihrem innersten Kern einen Frieden stiftende Pädagogik. Nicht weniger! Sie ist ein Weg, auf dem man die Kraft sammeln kann, den anderen zu lieben, als deinen Mitmenschen und Bruder zu sehen. Das ist die verborgene Essenz unserer Erziehung. Deshalb hat sie so eine tiefe Beziehung zu der schwierigen Zeit in Israel; sie ist ein wahrhafter, obwohl leiser Weg, diesen Teil der welt zu heilen.
Termine
17-19.11.2017
Internationale Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung „Haager Kreis“ in Dornach, Schweiz
29.09.-02.10.2017
Waldorf 100@Bundesschülerratstagung, Freie Waldorfschule Kaltenkirchen
26.10.2017
Waldorf 100@Freie Waldorfschule Wahlwies
Das Unerwartete erwarten. Wie sich ein Klassenlehrer auf seinen Unterricht vorbereitet
Von Henning Kullak-Ublick (Quelle: Erziehungskunst 11/2015)
Als Lehrer habe ich immer wieder die erstaunliche Erfahrung gemacht, dass die Klasse den Unterricht umso interessanter fand, je mehr ich mich bei der Vorbereitung innerlich an einzelne, konkrete Kinder gewandt und sie dabei gefragt habe: »Wie kann ich gerade dir das am besten erklären?« Eine Klasse ist ein kompliziertes soziales Kunstwerk, das dauernd in Bewegung ist. Jedes einzelne Kind betrifft immer alle.
Die Geschichte vom Bukephalos
Bei der Vorbereitung sammelt man als Lehrer zunächst einmal jede Menge Material. Diese gleichermaßen mühsame wie spannende Suche wird durch die heute oft ziemlich guten Schulbücher so vereinfacht, dass die Versuchung groß ist, diese als Hauptinformationsquelle zu nutzen. Das ist praktisch, aber nicht gut, denn die Entdeckungsreise in unbekanntes Terrain ist ein wichtiger Teil der Vorbereitung.
An der Waldorfschule müssen sich Klassenlehrer für jede Epoche in relativ kurzer Zeit viel Wissen aneignen, um mit ihrer Klasse weitergehen zu können. Abwechselnd geht es um Geografie oder Biologie, Geschichte oder Algebra, Chemie oder Physik, Deutsch, Hausbau oder Landwirtschaft. Diese Vielfalt zwingt, beispielhaft vorzugehen und aus lauter möglichen Wegen den einen herauszufinden, der für diese Klasse, ihre Fragen und ihren Entwicklungsstand am besten geeignet ist.
Ein entscheidender Schritt ist dabei, die Fülle des Stoffes zu starken, charakteristischen Bildern zu verdichten und diese in der eigenen Phantasie so auszugestalten, dass sie lebendig atmen und zu sprechen beginnen. Wird beispielsweise in der griechischen Geschichte Alexander behandelt, stellt sich die Frage, welche Ereignisse seines Lebens geeignet sind, einen satten Eindruck dieses Helden zu vermitteln, der trotz seines kurzen Lebens bis heute »der Große« genannt wird.
Eine Geschichte, die Klassenlehrer gerne erzählen, ist die seines Pferdes Bukephalos: Alexanders Vater Philipp II. wurde ein prächtiger Hengst zum Kauf angeboten. Aber immer, wenn sich ihm ein Reiter näherte, scheute er, stieg und schlug aus. Philipp wandte sich schon verärgert ab, als sein zwölfjähriger Sohn nach vorne drängte und sagte, er könne das Pferd zähmen. Alexander nahm es beim Zügel, drehte es um, saß auf und galoppierte unter dem Jubel der Zuschauer davon. Er hatte beobachtet, dass das Pferd vor den Schatten der Reiter zurückgeschreckt war und stellte es so zur Sonne, dass es keine Schatten mehr sah. Philipp kaufte das Pferd und sprach die berühmten Worte: »Sohn, suche dir dein eigenes Königreich, denn Makedonien ist zu klein für dich!« Alexander ritt Bukephalos von diesem Tag an und es trug ihn später auf seinem großen Zug in den Osten. Als das Pferd mit dreißig Jahren ertrank, errichtete er ihm zu Ehren die Stadt Alexandreia Bukephalos, heute Jhelam im pakistanischen Punjab.
Es genügt nicht, eine solche Geschichte einfach vorzulesen; man muss sich die Szene so farbig und lebendig vorgestellt haben, dass all das beim Erzählen zum Erlebnis wird: mit Gerüchen, Geräuschen, der Hitze, der blendenden Sonne, den Gesichtern der Beteiligten.
Anfangs hilft es, das laut zu üben, später geht es auch in Gedanken, vielleicht sogar für ein bestimmtes Kind. Dieser Vorgang ist eine imaginative Übung, weil das Bild durchsichtig, transparent wird für Zusammenhänge, die über die konkrete Situation hinausreichen. Im Beispiel sind das die Beobachtungsgabe, die Intelligenz und der unbedingte Wille Alexanders, die in den Worten seines Vaters noch einmal angesprochen werden.
Schlafend vom Bild zum Begriff
Dann kommt der Schlaf, der seinen Mantel des Vergessens über alle unsere Vorstellungen ausbreitet. Aber in der Nacht passiert etwas – bei uns wie bei den Kindern. Neurowissenschaftler sprechen davon, dass die Erfahrungen des Tages im Schlaf verarbeitet werden: Das erinnerbare Wissen wird im »deklarativen« Gedächtnis verankert, während in anderen Schlafphasen die Summe der Erfahrungen im »prozeduralen« Gedächtnis zu Fähigkeiten umgearbeitet wird. Wenn die Kinder morgens wieder in die Schule kommen, haben sich ihre Erlebnisse vom Vortag durch den Schlaf etwas verändert – vorausgesetzt, sie waren interessant genug, um im Schlaf beachtet zu werden.
Nun gibt es hier eine weitere interessante Beobachtung: Je intensiver ich als Lehrer am Vorabend in die Gestaltung eines Bildes eingetaucht bin, desto weniger klebe ich am nächsten Morgen an meinem Unterrichtsplan, am »Stoff« oder sogar an dem Bild selbst. Vielmehr passiert etwas ganz anderes: Ich werde neugierig auf das, was die Kinder mit Bezug auf das am Vortag Gelernte aus ihrem Nach(t)erleben mitbringen. Indem ich hören lerne, was sie erzählen oder welche unausgesprochenen Fragen in ihnen nachklingen, inspirieren sie mich, nicht einfach mit dem Stoff weiterzumachen, sondern mit ihnen die Zusammenhänge zu erkunden und daraus lebendige Begriffe zu gewinnen, die später weiter wachsen können. Dieses Hören ist ein Resonanzphänomen, das jeder Lehrer kennt: Plötzlich bekommt der Inhalt, den wir bearbeiten, eine Tiefe, eine Farbe oder eine neue Dimension, die weit über das hinausgeht, was ich geplant hatte oder was der Lehrplan verlangt. In dem Raum, der sich durch die gesteigerte Aufmerksamkeit für das Wie der Erinnerungen der Schüler bildet, wird Intuition möglich oder, um es mit einem gebräuchlicheren Begriff zu sagen: Das Lernen wird für alle zu einer Erfahrung der Geistesgegenwart, aus dem die Sicherheit erwächst: Ich kann die Welt wirklich verstehen!
Der Epochenunterricht bietet wunderbare Möglichkeiten für diese Art des Lernens und Unterrichtens, denn die Kinder gehen schon mit der Erwartung ins Bett, dass es am nächsten Morgen weitergeht. Wenn sie sich mit einer gewissen Spannung darauf freuen können, verbinden sie sich viel intensiver mit den Inhalten, als es durch die kognitive Wissensakkumulation allein möglich wäre. In einem größeren Bogen wiederholt sich dieses »Vergessen« zwischen den Epochen und das Erinnern, wenn der Faden wieder aufgenommen wird. Es gehört zu den erstaunlichen Erfahrungen, dass eine Klasse zu Beginn einer neuen Epoche, etwa beim Rechnen, oft mehr Können aus der Erinnerung hervorkramt, als sie am Ende der letzten Rechenepoche zur Verfügung hatte. Der an Waldorfschulen geübte methodische Kunstgriff, von den bildhaften, an die Phantasie der Kinder appellierenden Geschichten, von einem Experiment oder von einer anderen aktiven Wahrnehmung zunächst zum wiederholenden Beschreiben, Zeichnen oder Gestalten überzugehen und dann erst, nach einem Nachtschlaf, mit der begrifflichen Auseinandersetzung zu beginnen, schafft den Raum für die beschriebene Vertiefung.
Stufen der Meditation
Die Vorbereitung geht von der Materialsammlung zur Bildgestaltung und von dort zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die Fragen und Gedanken, die am nächsten Morgen von den Kindern kommen. Dadurch kann eine Atmosphäre entstehen, in der das Unerwartete geschieht – Geistesgegenwart. Dieser Dreischritt führt zu einer qualitativen Steigerung der Erkenntnisbildung und nicht zu einer unbestimmten Gefühlsduselei. Diese methodischen Stufen kann man sich allerdings nicht schnell mal eben aneignen. Sie sind ein Übungsweg, der den Vorteil hat, dass es zwar auch auf das Ergebnis, vor allem aber auf das Üben selbst ankommt. Und das beginnt beim ersten Versuch. Der Weg vom Stoff über das Bild zum »Hören« bis zur Geistesgegenwart entspricht den Stufen höherer Erkenntnis, die Rudolf Steiner mit den Worten Imagination, Inspiration und Intuition bezeichnet hat und von denen er sagte, sie seien als Anlage in jedem Menschen vorhanden, wenn es auch besonderer Aufmerksamkeit bedürfe, sie gezielt zu entwickeln. Gleichwohl liegen diese drei Erkenntnisstufen viel näher, als man vielleicht zunächst vermuten würde.
Die Bedeutung des Wortes Imagination ergibt sich bereits aus dem Vorbereitungsweg, bei dem es darum geht, lebendige Bilder zu finden, die geeignet sind, etwas von der geistigen Substanz der Dinge zu erahnen. In einem meditativen Kontext kann das ein Sinnen über die Beziehung von Weisheit und Liebe zu Licht und Wärme sein oder die Versenkung in das Bild einer Rose als Sinnbild für eine auf dornigem Pfad errungene Reinheit. Tiefer im Fühlen verankert ist die Inspiration, von der die gesteigerte Aufmerksamkeit für die unausgesprochenen Fragen der Kinder eine Vorstufe ist. Sie geht über die Imagination hinaus. Wenn ich merke, was die Kinder an den Bildern erleben oder erlebt haben, fühle ich nicht mehr (nur) mich selbst, sondern die Welt, die durch die Kinder zu mir spricht. Das Gefühl läutert sich zum Wahrnehmungsorgan.
Bei der Intuition, deren Vorstufe die Erfahrung der Geistesgegenwart ist, wird die für unser alltägliches Bewusstsein notwendige und übliche Subjekt-Objekt-Trennung aufgehoben, Erkennen und Erkanntes stehen sich nicht mehr gegenüber. Viele Mystiker beschreiben das. Dostojewski sagte lapidar: »Liebe macht sehend« – Steiner übrigens auch. In einem religiösen Kontext entspricht dem die Kommunion, worauf Rudolf Steiner in seiner »Philosophie der Freiheit« mit den Worten Bezug nimmt: »Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen.« Fasst man die Stufen der Meditation zusammen, so geht der Weg zuerst zu einem bewusst aufgebauten Bild, in das sich der Meditierende vertieft. Gelingt es ihm, dieses Bild innerlich zu fühlen und diesen Gefühlen sukzessive mehr Aufmerksamkeit als dem Bild zuzuwenden, kann daraus schließlich das Erfahren der wesenhaften Realität der geistigen Welt werden. Was wir normalerweise nur punktuell, in der Kunst oder in der Begegnung mit einem geliebten Menschen erleben, erweitert sich zur Welterkenntnis.
Fusionsreaktor oder Stern der Liebe
Eines Morgens kam ein Viertklässler zu mir und sagte, indem er mich herausfordernd ansah: »Die Sonne ist ein Fusionsreaktor!« Am Vortag hatte ich den staunenden Kindern erzählt, wie die Walfänger und Jamaika-Segler früher mit Hilfe der Sterne zurück in ihren heimatlichen Hafen fanden. Als er seinem Vater davon erzählte, zeigte der ihm einen populärwissenschaftlichen Astronomiefilm. Nun ist die Definition der Sonne als Fusionsreaktor für ein zehnjähriges Kind eine mechanistische Reduktion, die nicht nur phantasietötend wirkt, sondern es auch intellektuell überfordert: Als ich ihn fragte, was denn ein Fusionsreaktor sei, erfuhr ich, dass da kleine Krümel zusammenbacken. So viel zum Wirklichkeitscharakter des Modells … Was also tun? Ich wollte weder das Modell negieren, noch an der Autorität seines Vaters rütteln. Aber es war deutlich zu spüren, wie der Junge hoffte, dass ich ihm aus einer existenziellen Patsche half. Bis gestern war die Sonne noch ein großes Wesen, jetzt wurde sie ein Mechanismus. Also suchte ich ein Bild, das alles das umfasste, und zwar schnell, denn das Gespräch fand jetzt statt. Also fragte ich ihn, wo er merkt, dass er jemanden lieb hat. Er zeigte auf sein Herz. Wir sprachen darüber, wie es uns warm ums Herz wird, wenn wir jemanden lieb haben. Schließlich fuhr ich fort: »Die Sonne hat so viel Liebe, dass ihr Licht und ihre Wärme für alle Tiere, Blumen, Fische, Vögel und für alle Menschen reichen. Und immer, wenn ein Mensch jemanden lieb hat und gut zu ihm ist, holt er ein kleines bisschen davon auf die Erde, bis sie einmal selbst zu einem Stern geworden sein wird.« Eine solche kleine Imagination kann wachsen, ohne im Widerspruch zu Erklärungsmodellen zu stehen, die das später erwachende analytische Denken erfassen kann.
Freiheit wird heute oft mit der Fähigkeit verwechselt, Distanz zu wahren. Das ist aber nur die Vorbedingung zu einer tieferen Freiheit, die aus eigenem Entschluss neue Verbindung schafft. Damit die Kinder vom bereits vorhandenen, fertigen Wissen der Erwachsenen ihren eigenen Weg zum Begreifen gehen können, brauchen sie Bilder als Anregungen zum Selberdenken. Freiheit ist ein Balanceakt zwischen Willkür und Beliebigkeit, mit denen sie allzugerne verwechselt wird. Eine Pädagogik, die sich der Freiheit verschrieben hat, tut gut daran, das Balancieren zu üben, weil die Fähigkeit, im Vorwärtsschreiten stets neu das Gleichgewicht zu finden, nicht nur die Grundlage jeder guten Pädagogik, sondern auch jeder Lebenskunst ist.
Und genau diese Kunst ist es, die uns vor der Erstarrung oder Verflüchtigung bewahrt – sowohl in der Schule als auch im Leben.