Wie modern ist die Waldorfpädagogik?

Experten sehen Waldorfschule gut gerüstet für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – Auftakt zum 100-jährigen Jubiläum auf der didacta 

Hat die Waldorfpädagogik lediglich nostalgische Traditionen der Reformpädagogik zu bieten oder liefert sie den Schülern nicht vielmehr das passende Rüstzeug für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts? Unter diese Fragestellung hatte der Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS) seine Auftaktveranstaltungen zum 100-jährigen Waldorfjubiläum auf der Bildungsmesse didacta im Februar in Köln gestellt. 

Zusammen mit Journalisten, Praktikern und Wissenschaftlern wurde in verschiedenen Veranstaltungen am Stand der Waldorfschulen dieser Frage intensiv nachgegangen. Das Fazit: gerade durch ihre Handlungsorientierung, ihren Weltbezug, ihr ganzheitliches Lernen und die große Bedeutung der Entwicklung der sozialen Fähigkeiten in der Klassengemeinschaft erweist sich die Waldorfschule auch nach 100 Jahren als höchst modern. Denn durch diese Grundlagen, die die individuelle Entwicklung in den Vordergrund stellen, befähigt sie die Schüler, ihren eigenen Weg in der Diversität der globalisierten Welt zu finden. 

Es sei die große Stärke der Waldorfpädagogik, Herz, Kopf und Hand gleichermaßen anzusprechen und so die Willenskräfte des Individuums zu entwickeln, betonte Autor Wolfgang Saßmannshausen in der Diskussion um den richtigen Umgang mit den neuen Medien. „Man muss heute alles tun, um den Willen der Schüler zu stärken, der durch die modernen Medien regelrecht bombardiert wird“, so Saßmannshausen.

An der Diskussion nahmen außerdem Prof. Paula Bleckmann von der Alanus Hochschule und Franz Glaw als erfahrener Oberstufenlehrer und Medienexperte der Waldorfschulbewegung teil. Moderator war Henning Kullak-Ublick, Vorstandsmitglied des BdFWS. Er wies zu Beginn der Diskussion darauf hin, dass die didacta sehr kontroverse Sichtweisen zum Thema Medien zu bieten habe, vom „Teufelszeug bis zum Allheilmittel“. 

Prof. Bleckmann brachte Ergebnisse ihrer Forschung zum Thema Computerspielsucht ein. Hier habe sich gezeigt, dass auch sehr gut entwickelte Fähigkeiten im Umgang mit den Computern nicht vor Suchtgefahren schützten. Deswegen führe auch der Kompetenzbegriff in dieser Frage nicht weiter, anzustreben sei die Mündigkeit der Schüler im Umgang mit den Medien, eine Reifung im Sinn von selbstbestimmter Entscheidung: „Welchen Anteil an Lebenszeit verbringe ich am Bildschirm und wieviel davon mit anderen Tätigkeiten?“. Zu dieser Entscheidung müsse Pädagogik die Schüler befähigen. 

Die Gründe für die Spielsucht liegen nach den Forschungsergebnissen von Bleckmann, für die 3.000 Interviews mit Betroffenen ausgewertet worden sind, im Versuch, in der virtuellen Welt eine Befriedigung realer Bedürfnisse zu erlangen. Die Sehnsucht nach Anerkennung, Zugehörigkeit, Gemeinschaft und Autonomie werde durch die Medien aber nur scheinbar erfüllt. Die Waldorfpädagogik bietet nach Auffassung von Bleckmann viele Ansatzpunkte, diese Sehnsüchte zu stillen, von daher sieht die Forscherin die Waldorfschulen in der Rolle einer „Avantgarde“ in der Vermittlung von Medienmündigkeit vor allem im Bereich der Unter- und Mittelstufe. In der Oberstufe bestehe noch Handlungsbedarf und auch die Erzieher im Waldorfkindergarten müssten sich vor Tendenzen der „Weltfremdheit“ hüten, wenn sie den Umgang vieler Kindergartenkinder mit Hollywoodfilmen wie StarTrek nicht in Betracht zögen. 

Praktiker Franz Glaw stellte mit seinem P-wise-Konzept ein entwicklungsorientiertes Programm für den Umgang mit den Medien vor. Es sei ein Missverständnis, dass die Waldorfschule z.B. Fernsehen einfach nur ausschließe. „Die Schüler brauchen eigene Erfahrungen der Selbstwirksamkeit auch im Umgang mit den Medien. Was für die 1.Klasse richtig ist, gilt aber nicht für die 13.“ p-wise steht für produktionsorientiert, d.h. für das Selbermachen z.B. von Filmen, für Weltbezug, für Integration, die Medien in allen Fächern thematisiert, für sinnhaftes Tun und für altersgemäße Entwicklungsorientierung. Auch im Umgang mit den Medien komme es darauf an, den Schülern auf allen Klassenstufen zu vermitteln, dass die Welt „sinnvoll, durchschaubar und handhabbar“ ist. 

Prof. Jost Schieren von der Alanus Hochschule arbeitete in seinem Vortrag ebenfalls diejenigen Qualitäten der Waldorfpädagogik heraus, die aus seiner Sicht die Schüler zur Bewältigung des Lebens im 21. Jahrhundert befähigen. Schieren stellte das „Spannungsfeld“ an den Anfang, in dem sich die Waldorfpädagogik befinde zwischen einer „ langen Tradition“ und den Anforderungen von Modernität. Die Waldorfschule sei entstanden im Kontext der pädagogischen Erneuerungsbewegung der 20er Jahre und habe bei vielen Entwicklungen als Vorreiter gedient, beispielsweise der Koedukation, die heute selbstverständlich sei. Aus der Sicht der Erziehungswissenschaft sei sie jedoch in diesem historischen Kontext verblieben, sie werde oft als „Bewahrpädagogik“ eingestuft, die die Schüler vor den „Zumutungen der Moderne“ schützen wolle. 

Dieser These setzte Schieren seine Sichtweise entgegen, nach der die Waldorfpädagogik sehr wohl an den Problemen der Gegenwart ansetze und Bewältigungsstrategien für diese anbiete. Im Zentrum der Gegenwartsprobleme steht für Schieren die „Weltentfremdung“ der Menschen, zunehmend gehe der Bezug zur Natur verloren, die Umwelt werde nur noch als Ressource begriffen. „Ein echter Weltbezug kann so nicht mehr entstehen, die Pädagogik hat aber die Verantwortung dafür, dass die Kinder sich real mit der Welt verbinden“, betonte Schieren. 

Durch ihre starke Handlungs,- Erfahrungs- und Sinnesorientierung eröffne die Waldorfpädagogik den Schülern offene und freilassende Erfahrungsräume, die ihnen eigene Sinnstiftung ermögliche. Sie biete so mannigfaltige Koheränz- und Autonomieerfahrungen, wie sie von Aaron Antonovsky gefordert werden zur Gewährleistung der Resilienz des Individuums, d.h. seiner psychischen Widerstandsfähigkeit gegenüber den Herausforderungen seines jeweiligen Umfelds. Der amerikanisch-israelische Soziologe Antonovsyk (1923 -1994) gilt als Begründer der Salutogenese, der Wissenschaft von den Bedingungen der Gesunderhaltung des Menschen. 

Die Regelschulpädagogik definiere sich demgegenüber seit PISA vor allem durch Ergebnisse, die durch Normen und Standardisierungen erreicht werden sollen. „Diese Leistungsbemessung widerspricht einem offenen Weltbezug“, argumentiert Prof. Schieren. Hier ermögliche die Waldorfschule den Schülern Freiräume. Durch die Einbeziehung der Sinneserfahrung ermögliche sie auch eine andere Leibesintegration, durch rein kognitives Lernen werde diese Seite des Lebens nicht berührt. „Wir müssen aber so unterrichten, dass die Lebensprozesse gestärkt werden“. 

Die Waldorfpädagogik gehe dabei noch über den ganzheitlichen Ansatz der Reformpädagogik hinaus: „Das Besondere an der Waldorfpädagogik liegt in ihrem holistischen Ansatz, der Kopf, Herz und Hand integriert – auch im Sinn von Pestalozzi.“ Der Mensch werde als unverwechselbare Individualität gesehen, dadurch verfüge die Waldorfpädagogik über ein Ich-Verständnis, das in der Regelschulpädagogik so nicht gegeben sei. „Vor diesem Hintergrund stellt die Selektion nach der 4.Klasse im Regelschulsystem ein grausames Instrument dar, für das Deutschland international auch immer wieder Kritik erfährt“, betonte Prof. Schieren. Die Folgen diese Selektion seien für die Schüler nicht förderlich, sie würden dadurch in ihrer Entwicklung behindert. Wenn Schule die individuelle Entwicklung ernst nehme, müsse Pädagogik „offen gedacht werden und Normen und Standards zurücknehmen“. 

Am Ende der Diskussion ging es dann um die Rolle der Eltern, die in den Waldorfschulen besonders aktiv sind und es wurde auch die Frage aufgeworfen, wie Waldorfpädagogik auch den besonders benachteiligten Kindern und Jugendlichen zugute kommen könne, die bisher eher nicht zum Schülerkreis der Waldorfschule gehören. Zu letzterem verwies Prof. Schieren auf das Beispiel der Charterschools in den USA, bei denen Waldorfpädagogik im staatlichen Schulsektor zum Tragen komme. 

Dr. phil. Cornelie Unger-Leistner, Redaktion Jahresbericht Waldorf 

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